In Stein gemeißelt

Die Sonne brannte, hellte meine Zöpfe strähnenweise blond auf. Effekte, die Erinnerungen an Kindersommer wach riefen, als Großmutters Lachen noch keinen Schmerz in den Mundwinkeln trug. Ich war lange nicht hier. Doch es war alles auf enttäuschend banale Weise wie immer, aber nicht mehr vertraut. Aufgeheizte Betonwüsten, dazwischen kühle grüne Oasen. Ich spazierte auf barem Fuß.

Zur Begrüßung reichte sie mir damals die knochig ausgetrocknete Hand und umärmelte mich herzlich. Ein Faltengebirge aus Humangestein. Spiegel der Gezeiten eines ereignisreichen Lebens.

Sie hatten mich vorgewarnt. Großmutter freute sich über den Besuch und wollte ihn doch nicht, denn es ging ihr davon nicht besser. Sie mochte die Blicke nicht ertragen, die so zwanghaft freundlich auf ihr lagen, aber keine Spur von Unbekümmertheit in sich bargen. Die Blicke waren Ausdruck von erwartendem Leiden. Reflexion der eigenen Angst vor dem Tod, gespiegelt auf Großmutter.

Seit ich denken kann, kenne ich Großmutter als Energiebündel, ein Immerfröhlich und Springinsfeld, das eine Aura von Sonne um sich versammelte. Ich bewunderte sie dafür keine Angst zu haben ohne naiv zu sein. Unbekümmert. Das war ihr Lieblingswort.

Doch keiner von uns im Raum war das gerade. Wir hatten Angst um sie. Wir hatten Angst, wie es sein würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Verlustangst. Und die ist von Hause aus immer egoistisch.

Sie hatte sich gegen das Krankenhausbett, gegen eine stationäre Pflege, gegen fremdes Hinternabwischen entschieden. Wir besuchten sie wie eh und je zu Hause. Ich hatte Linzer Torte gebacken und kämmte Großmutter die grau melierten Locken. Erzählte von der Uni, las ihr aus der Zeitung vor und stritt mit ihr über Marx. Und sie wurde Jahr um Jahr jünger und lächelte wieder.

„Geh doch bitte mal durch den Raum und schau Dich einen Moment um.“
„Und wonach soll ich da schauen?“
„Nach etwas, was Dir gefällt. Du sollst es dann haben.“
„Oma, lass den Quatsch. Ich mag nichts haben.“
„Du kriegst es ja auch jetzt noch nicht. Na, hör mal!“
„Ich weiß nicht.“
„Du weißt nicht? Marie nimmt die kleine Tänzerin. Du weißt schon, die kleine Tischstatue mit dem Teufelchen. Die hätte zu Dir auch gepasst, wie wir durch den Flur getanzt sind, als Du klein warst. Tango.“
„Und Wiener Walzer. Aber Oma, ich mag nicht.“
„Ich heb’s Dir auf und wenn die Zeit ran ist, soll’s Dich an mich erinnern.“

Also schritt ich Großmutters Wohnzimmer ab – widerwillig. Ließ Erinnerungen Revue passieren. Blieb vor dem Sofa stehen, drehte mich zu ihr um und erblickte ihr wissendes Lächeln. Ich hatte eine Entscheidung getroffen und befand sie mit einmal sogar für gut.

„Wenn ich also soll, dann nehme ich das Bild.“
„So so, das Gemälde. Den mit Abstand wertvollsten Gegenstand, das Gemälde. Eine gute Wertanlage“, witzelte sie.
„Opa hat es Dir mal zum Geburtstag geschenkt. Ich mag es und man kann Dich darauf sehen.“
„Na, wenn man es weiß, ja.“ Sie lachte. „Nun denn weiß ich bescheid und Du sollst es kriegen.“

Jetzt war ich also hier. Zu Besuch, aber nicht in ihrem Wohnzimmer. Zur Begrüßung reichte sie mir nicht die Hand. Statt Kuchen hatte ich Blumen mitgebracht. Ich setzte mich zu ihr nieder. Seit Tagen hatte es nicht geregnet. Schweiß rann mir von der Stirn. Ich und der Boden hatten Durst. Ich gab den Strauß Sonnenblumen in die dafür vorgesehene Vase. Eine Aura von Sonne umgab nun den halbschattigen Platz zwischen zwei Birken. Ich lächelte. Blieb noch einen Moment mit ihr, bis ich mich schließlich erhob und ging. Große Stapfen durch sonnenwarmes Gras – ein Gemälde im Augenblick:

In Gold gerahmt ein Pfad von Birken gesäumt und am Horizont markieren zwei schwarze Tupfer meine Großeltern, die spazieren gehen. Womöglich auch barfuß.

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